Lucie Stahl: Seven Sisters
12. März – 31. Juli 2022
Eröffnung: Freitag, 11. März, 19-21 Uhr
Es gibt signifikante strukturelle Ähnlichkeiten zwischen der Erdöl- und der Milchindustrie. Beide involvieren Saugen, Pumpen, Fließen und Druck, um ein Rohmaterial zu gewinnen, das in Wachstum und Energie umgewandelt wird. Es existieren weitestgehend neutralisierte Sichtweisen und Beziehungen zu anderen Lebewesen und der Erde selbst, die das Zentrum dieser Produktionsweisen und Konsummodi bilden. Diese Verbindungen und Verschiebungen werden in Lucie Stahls Werk materialisiert und verdeutlicht. Ihre visuelle Sprache ist ambivalent und zugleich exakt. Sie greift zurück auf das kollektive Gefühl, dass die sich verschiebende Basis, die unsere tägliche Realität darstellt, eine Warnung vor dem unmittelbar bevorstehenden systemischen Kollaps sein könnte. In Seven Sisters vollzieht sich ein fortlaufender Prozess der Annäherung und der Abstraktion. Stahl nähert sich einem Feld, das beinahe zu groß ist, um es mit Worten zu erfassen, weshalb sie auf die Details fokussiert anstatt zu versuchen, sich einen unmöglichen Überblick zu verschaffen. Für eine neu konzipierte Fotoarbeit wurden eine Reihe Nahaufnahmen von Rohöl auf einem verlassenen Ölfeld angefertigt, die sickernde und blutartige Materialität der Erdöffnungen der Landschaft auf eine silberglänzende Platte übertragen. Das Öl – Relikt einer prähistorischen natürlichen Welt – erzeugt in Kombination mit der Materialität der fotografischen Reflexe sowohl Oberfläche als auch unergründliche Tiefe. In den Pfützen offenbaren sich uns verschiedene Geschöpfe und Formen: man könnte meinen, zwei Wesen zu erkennen, die sich durch einen Sturm schleppen; ein monströses Profil, das aus dem Meer auftaucht; und dann die zur Hälfte verdeckten Umrisse eines Tieres, das tatsächlich in der Pfütze gefangen ist. Diese öligen Rückstände wirken bei genauerer Betrachtung surreal – ein Gefühl von Fremdartigkeit und Unwirklichkeit, das scheinbar etwas im Kern unserer verschütteten/unterbewussten Beziehung zu Konsum- und Müllkreisläufen berührt. Diese Arbeit steht im Dialog mit ausgewählten früheren Werken von Stahl, wie etwa Giants, einer Serie düsterer fotografischer Ansichten von Ölplattformen. Diese auf epische Weise massiven Maschinerien ragen wie stoische Apparate aus dem Wasser auf, darunter die Tiefen ihrer Fundamente und die Bohrungen, die Hunderte von Meter unter die Erdoberfläche reichen. Was wir hier sehen, ist nur die Spitze. Jenseits der sichtbaren Welt bewegen sich die Giants über den Meeresgrund, als Teil eines Zyklus, den der Ökologe und Aktivist Andreas Malm als „warming condition“ beschrieben hat. Das furchterregende Ausmaß und die beeindruckende Brutalität dieser Komplexe veranschaulichen auch den Tiefgang dessen, was nicht sichtbar ist, oder dessen, was möglicherweise andernfalls nur teilweise zur Kenntnis genommen würde. Sobald die schwindelerregende Dunkelheit und Monstrosität in Stahls Arbeit an die Oberfläche tritt, besteht jedoch auch die Möglichkeit einer Gegenbewegung – durch Ambivalenz, durch destabilisierende Leichtigkeit und Humor. Das ist bei FUEL der Fall, einem überdimensionierten Geschöpf auf vier Beinen, das an eine Melkmaschine erinnert. Dieses Biest, dessen dünne Beine in Saugnapf-Füßen münden, hat eine karikaturistische Qualität. Das Größenverhältnis ist absurd, eine Konzentration auf metallene Verbindungen und Gliedmaßen mit gummierten Saugöffnungen, die entwickelt wurden, um sich an weichem Gewebe festzuhalten. Ein Hauptstrang der Ausstellung greift diese langfristigen Anliegen auf, öffnet aber auch neue Räume der Materialität und Stimmung – eine Qualität, die am intensivsten bei der neuen skulpturalen Installation Seven Sisters zu spüren ist. Sieben transnationale Ölkonzerne, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Ölindustrie dominierten, wurden als Sieben Schwestern bezeichnet, in Anspielung auf die mythologischen Schwestern der Plejaden, die vom Titanen Atlas gezeugt wurden. Die Form von Stahltürmen annehmend, erinnern die Skulpturen an verschiedene Arten von Tiefsee-Bohrinseln und Bohrpumpen. Sie umweht ein Hauch des Optimismus im Sinne einer frühindustriellen New-Frontier-Vorstellung vom Überfluss der Natur. Wie feine Linienzeichnungen strahlen alle Gestalten ihre individuellen charakterlichen Grundhaltungen und Attitüden aus, sowie eine seltsame Form der Verkörperung, welche angesichts der Röcke und Bänder, die sie tragen, besonders befremdlich wirkt. Diese Geschöpfe haben etwas Eingeschränktes, sie sind zusammengebunden, gepackt in einem Zustand, der zwischen Erotik und Gewalt changiert. Es schwingt etwas von Bondage mit, verstärkt durch die Logik der Milch- und Ölgewinnung, unter deren Prämisse sie sich zusammenfügen. Die Ausstellungsarchitektur entfaltet sich nach und nach, wobei die einzelnen Abschnitte und Momente der Konzentration miteinander verbunden sind und Innen und Außen ineinander übergehen. Die Ausstellung beginnt und endet mit einer Arbeit, die sich draußen auf dem Vorhof des Bonner Kunstvereins befindet. In Anlehnung an tibetische Gebetsmühlen hat diese Skulptur die Form eines Metallrahmens, der eine Reihe von Ölfässern umfasst, welche die Betrachter*innen drehen und wenden können. Es handelt sich dabei um eine Anspielung auf das Erhabene und die Transzendenz, zugleich aber auch um eine taktile Begegnung zwischen Überschwang und Aufzehrung.
Mit freundlicher Unterstützung des Neustart Kultur Programms, der Stiftung Kunstfonds, des Landschaftsverbands Rheinland, der Stiftung Kunst der Sparkasse Bonn und der Kunststiftung NRW.